(28. Juni 2023) Da die Baumaßnahmen am Rheinufer noch nicht abgeschlossen sind, fand auch in diesem Jahr die Gedenkveranstaltung Namen und Steine im Café Bach statt im Kalten Eck statt. Deswegen konnte auch nicht der neue Stein für Siegfried Rudolf Dunde eingelassen werden. Michael Jähme hat in seiner Rede sein Wirken und Leben revue passieren lassen. Sein Stein, der aufgrund der Initiative von Michael angefertig wurde,  wird sobald es möglich ist, im Kalten Eck eingelassen. Hier seine Rede in kompletter Form.

Erinnerung und Spurensuche:

In Memoriam Siegfried Rudolf Dunde, 1953 – 1993

Liebe Freunde und Freund:innen!

Die Welt war nicht immer so, wie wir sie heute kennen. In den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts, also vor 30 bis 40 Jahren, sahen sich schwule Männer gesellschaftlich an den Rand gedrängt und moralisch verurteilt und von der Krankheit AIDS bedroht, gegen die es damals keine medizinischen Therapien gab. Dass wir heute als schwule Männer und als Menschen, die mit HIV leben, mehr Freiheit und mehr Lebensqualität erleben können, haben wir Menschen zu verdanken, die dies gegen starke Widerstände für uns erstritten und erkämpft haben. 

Einer von ihnen ist und war Siegfried Rudolf Dunde.

Ich bin ihm nie persönliche begegnet. Meine Spurensuche zu seinem Leben und Wirken erfolgt aus der Perspektive der nachfolgenden Generation, die sich dafür interessiert, was die vorherige Generation erlebt und aufgebaut hat. Siegfried Dunde wurde am 19. März 1953 in Idstein geboren. Über seine Kindheit und Jugend ist mir nichts bekannt. Ebenso ist mir nichts darüber bekannt, wann er sein Schwulsein entdeckte und wie er damals damit umging.

Siegfried Dunde hat katholische Theologie, Psychologie und Soziologie studiert, drei Themenfelder, denen er sich zutiefst verbunden fühlte. Er war berufstätig als Religionslehrer, Schulpsychologe und in der Erwachsenenbildung, und er hatte auch Lehraufträge an der Universität Bonn. Veröffentlichungen von und mit ihm über theologische und religionspsychologische Themen erschienen in Zeitschriften und im Rundfunk.

Bereits 1981 erfolgte seine erste Dissertation zum Thema „Die Behandlung des Neides in katholischen und evangelischen Religionsbüchern.“ Dass er als schwuler Mann der katholischen Kirche, ihrer Moral und Sexuallehre sehr kritisch gegenüberstand und versuchte, ihr konstruktiv zu begegnen, drückt sich in einer der ersten seiner vielen – ca. 35 -Buchpublikationen als Autor und Herausgeber aus. 1984 erschien: „Katholisch und rebellisch – Ein Wegweiser durch die andere Kirche.“ Die kritische Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche zieht sich durch sein ganzes Leben. Sein Buch mit dem Titel: „Müssen wir an der katholischen Kirche verzweifeln?“ erschien 1993, in dem Jahr, als Siegfried Dunde an AIDS starb. Es wäre interessant, von ihm zu hören, wie er heute diese Frage beantworten würde. Dundes Fragen von damals haben an Aktualität nichts verloren.

Aber dann wandte sich Siegfried Dunde dem politischen Leben zu. Er wurde Teil des Mitarbeiterstabes des damaligen Bundespräsidenten Karl Carstens und verfasste für ihn unter anderem Reden. Die Amtszeit von Bundespräsident Carstens endete 1984. Auch für dessen Nachfolger, Richard von Weizsäcker, arbeitete Siegfried Dunde. Er war Weizsäckers Mitarbeiter, als dieser in seiner viel beachteten Rede vom 8. Mai 1985 zum 40. Jahrestags des Endes des Zweiten Weltkrieges als Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland zum ersten Mal ganz offiziell die Homosexuellen als Opfern des NS-Regimes benannte und anerkannte.

In dieser Zeit,1984, war es auch, dass sich Rainer Ehlers (Jarchow) und Siegfried Dunde kennenlernten. Beide Theologen, beide Psychologe bzw. Psychotherapeut, beide schwule Männer, die aktiv auf die gesellschaftlichen Verhältnisse einwirken wollten. Und beiden war klar, dass mit dem Aufkommen von AIDS die mühsam errungenen ersten Freiheiten für das Leben schwuler Männer zunichte gemacht zu werden drohten. Das galt es zu verhindern.

Am 26. September 1985 wurde die Professorin Rita Süssmuth vom damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl in sein Regierungskabinett geholt. Dort wurde sie – unter anderem -Bundesgesundheitsministerin. Unter ihrem Vorgänger, Heiner Geißler, war schon die erste Aufklärungsbroschüre „Was sie über AIDS wissen sollten“ gedruckt worden, die im November 1985 als Wurfsendung in jedem Briefkasten der Republik landete. Und zum Jahresbeginn 1985 hatte auch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) das Thema HIV/AIDS in ihr Arbeitsspektrum aufgenommen. Als Rita Süssmuth 1985 ihr Amt antrat, spielte AIDS noch keine dramatisch große Rolle in der deutschen Gesundheitspolitik. Das sollte sich sehr schnell ändern. Und Siegfried Dunde strebte in die AIDS-Arbeit auf der Ebene des Bundesgesundheitsministeriums.

Rita Süssmuth erzählt in einem Interview, wie sie und Siegfried Dunde sich kennenlernten. Sie war erst wenige Tage im Amt, als Siegfried Dunde – damals 32 Jahre alt – sie aufsuchte und sich als Mitarbeiter in ihrem Ministerium für Jugend, Familie und Gesundheit anbot und bewarb. Sie hatten ein längeres Gespräch, Dunde erzählte ihr seine Biografie und erwähnte erst ganz zum Schluss, dass er sich auch mit dem Thema AIDS beschäftigen würde. Rita Süssmuth hatte bis dahin noch gar keine Zeit, sich dem Thema AIDS zu widmen. Siegfried Dunde kam ihr wie gerufen. Ein Glücksfall. Sie nahm ihn als Referenten in ihrem Ministerium auf, auch weil sie keine Berührungsängste mit homosexuellen Männern hatte. Siegfried Dunde wurde ihr engster Mitarbeiter in der Ausgestaltung der AIDS-Politik. Was beide verband, war auch ihr in der katholischen Soziallehre wurzelndes Menschenbild. Daraus entstand eine vertrauensvolle Zusammenarbeit.

Siegfried Dunde war ein offen lebender schwuler Mann. Er hat zwar in Bonn gelebt, sein schwules Leben fand aber in Köln statt. Und Köln war damals ein wichtiges Labor für die HIV-Prävention, vor den Toren Bonns, wo das sich das Bundesgesundheitsministerium befand. In Köln entstand unter dem Leiter des Gesundheitsamtes Jan Leidel die sogenannte „Kölner Linie“. Diese setzte auf Kooperation mit den von HIV/AIDS betroffenen Szenen und Gruppen. Mit diesen als Alltagsexperten wurden Maßnahmen entwickelt, die für die Menschen zum Schutz vor HIV sowohl lebbar als auch wirkungsvoll waren. Zentrale Elemente waren dabei Eigenverantwortung und Aufklärung. Die von HIV besonders betroffenen Gruppen wurden in die Herausforderung HIV/AIDS eingebunden und beteiligt. Und ganz bewusst stattete der Staat dann diese zivilgesellschaftlichen Vereine und Organisationen mit den dafür benötigten Finanzmitteln aus. Es gab diverse Bundesmodellprojekte

Bayern unter seinem Staatsminister Gauweiler dagegen setzte auf  Verbote, Kontrolle und staatlich verordnete Regulierung und wollte dies auch auf Bundesebene sehen.

Die Kölner Linie – und gleiche Präventionsansätze entwickelten sich auch in anderen Städten – war stark inspiriert von dem, was – besonders schwule – Männer, die oft in die USA reisten und dorthin auch Freundschaften hatten, an Erlebnissen, Reiseberichten, an Ideen und Konzepten der HIV-Prävention mit nach Deutschland zurückbrachten. Die AIDS-Krise fand in den USA ein paar Jahre früher statt als in Deutschland, und man konnte von den Aktivisten in den USA lernen. Andere wichtige Hotspots des AIDS-Geschehens waren in Europa London und Amsterdam. Auch Siegfried Dunde war oft in den USA und Europa unterwegs und seine Expertise für das AIDS-Referat des BMG speiste sich auch aus diesen eigenen, persönlichen Erfahrungen.

In den drei Jahren 1985 bis 1988, in denen Rita Süssmuth Bundesgesundheitsministerin war, erfolgten die entscheidenden Weichenstellungen für die AIDS-Politik. Siegfried Dunde war entscheidend mit daran beteiligt, dass die Aidspolitik der Bundesregierung liberal, human und frei von seuchengesetzlichen Maßnahmen blieb.

Siegfried Dunde hat einen sehr großen Anteil an der Etablierung des Ansatzes der zielgruppenspezifischen AIDS-Prävention, also der Aufgabenteilung zwischen der BZgA für die Allgemeinbevölkerung, und  der Deutschen Aidshilfe und anderen NGOs für bestimmte Zielgruppen. Es war nicht Dunde alleine, der dies geschafft hat. Eine ganze Reihe von Menschen war daran beteiligt, aus Köln zum Beispiel Jan Leidel und Rainer Ehlers (Jarchow) als enge Berater von Rita Süssmuth.

Aber Siegfried Dunde im AIDS-Referat des Bundesgesundheitsministeriums hat diesen Ansatz sehr gepusht. Was Siegfried Dunde auszeichnete waren seine Umtriebigkeit, sein leidenschaftliches Engagement gepaart mit intellektueller Kompetenz, die AIDS-Krise zu verstehen und zu analysieren. Siegfried Dunde hat viele Ideen mit Leidenschaft in Politik umgesetzt. Und Rita Süßmuth hat auf ihn gehört.

Zum Beispiel nahm Rita Süssmuth 1987 auf Initiative von Siegfried Dunde an einem der seit 1986 laufenden Bundespositiventreffen im Waldschlösschen teil. Das Waldschlösschen lag zufälligerweise, oder glücklicherweise, in ihrem Bundestags-Wahlkreis Göttingen. Ihre Teilnahme hatte eine durchaus historische Bedeutung, denn dass eine Gesundheitsministerin sagte: ‚Ich geh jetzt da hin, wo sich die HIV-Positiven treffen‘, das war schon eine Sensation. Die direkte Begegnung mit Menschen mit HIV und das Hören von ihren Lebenssituationen und Alltagssorgen hat Rita Süssmuth tief geprägt. Es ist dann auch nicht bei nur diesem einen Besuch geblieben. Die Erfahrungen, die sie bei ihren Teilnahmen im Waldschlösschen an Treffen der Positivenselbsthilfe und bei den Fortbildungen für Fachkräfte im AIDS-Bereich sammeln konnte, überzeugten sie einmal mehr von ihrer Linie der AIDS-Politik.

Diese erfolgreiche AIDS-Politik wird gemeinhin mit dem Namen Rita Süssmuth verbunden. Wenig bekannt ist der Anteil von Siegfried Dunde daran, der für sie Reden schrieb, sie fachlich zu allen Fragen von AIDS kompetent machte, oft zu Terminen im Kontext HIV/AIDS begleitete und nach außen nicht groß in Erscheinung trat. Er war weder Aktivist in der Schwulenpolitik noch Aktivist in der Aidshilfe-Bewegung. Er war der entscheidende Mann im Hintergrund.

Nach dem Ausscheiden von Rita Süssmuth als Gesundheitsministerin arbeitete Siegfried Dunde im AIDS-Referat unter der neuen Ministerin Ursula Lehr weiter. Das Arbeits- und Lebensklima für schwule Männer in der Bundespolitik und Bundestagsverwaltung war damals alles andere als einfach, sondern von Diskriminierung geprägt. Siegfried Dunde hat – nach seinem Ausscheiden aus dem AIDS-Referat im BMG 1989 – eigene Erlebnisse und Beobachtungen in seiner Eröffnungsrede beim Internationales Symposium „HIV/AIDS Homosexualität und Bisexualität“ 1991 in Hamburg direkt angesprochen: „Im Bereich der staatlichen AIDS-Arbeit kommt es immer wieder vor, daß schwule Männer gerne als Mitarbeiter genommen werden, aber als Vorgesetzte und Inhaber von Karriere-Posten gelten sie selbst auf dem Sektor der AIDS-bezogenen Verwaltungsstrukturen als untragbar. Überhaupt gilt i.A. immer noch, daß ein schwuler Mann einen Karriereposten nur dann erhalten kann, wenn er seine Sexualität und seine Partner möglichst versteckt oder sich gar als besonders bissiger Schwulenfeind erweist, der auf diese Weise jeden Verdacht von sich ablenkt.“

Es waren wohl auch diese Erfahrungen, die dazu führten, dass er das AIDS-Referat im BMG verließ, weil er eine Professur an der Fachhochschule für Verwaltung in Köln bekommen hatte. Er war unzufrieden mit dem Posten des Referenten, er wäre gerne Leiter des „Koordinierungsstabs AIDS“, der vier Referate umfasste, geworden. Zu seinem Ausscheiden war es ihm aber ein Anliegen, dass wieder ein schwuler Mann im Koordinierungsstab AIDS vertreten sein sollte. Sein personalpolitischer Schachzug war es, vier Namen von AIDS-Hilfe-Aktivisten (mit Hochschulabschluss, um für eine Referentenstelle in Frage zu kommen) ins Spiel zu bringen. Das Ministerium hätte ganz anders entscheiden können, wählte aber mit Frank Niggemeier einen dieser vier von Siegfried Dunde ins Spiel gebrachten Personen aus. Seine Strategie war aufgegangen.

Neben seiner Arbeit im AIDS-Referat des Bundesgesundheitsministeriums war Siegfried Dunde aber auch privat überaus engagiert. 1987 bat ihn Rainer Ehlers (Jarchow) in das Vorbereitungsgremium für seine in den Startlöchern stehende Aids-Stiftung „positiv leben“, der heutigen „Deutschen AIDS-Stiftung“. Siegfried Dunde wurde Gründungsmitglied und stellvertretender Vorstandsvorsitzender und blieb dies bis zu seinem Tod.

Siegfried Dunde war auch im Berufsverband Deutscher Psychologen, und dort eine treibende Kraft im Bundesausschuß AIDS. Im Januar 1989 veranstaltete dieser Berufsverband auf Initiative von Siegfried Dunde in Köln den Workshop  „Psychotherapie bei HIV-Infektion und AIDS“, an dem 35 Psycholog*innen und Ärzt*innen teilnahmen. Ziel war es, ein Netzwerk von Menschen zu schaffen, die sich in der und für die Psychotherapie bei HIV/AIDS engagierten. Siegfried Dunde war auch am Faltblatt der DAH: „Aids – wie Psychologie helfen kann“ beteiligt.

Seinen zweiten Doktortitel erwarb Siegfried Dunde an der Universität Bremen mit einer Arbeit zum Thema: „Die Auswirkungen von Homophobie, sozial wirksamen Gefühlen und Wertkonflikten auf den politischen Umgang mit AIDS: Spannungen zwischen Gesundheitspolitik und gesellschaftlichen Integrationsproblemen“.

Ein überaus produktives und kreatives Leben, das sich gerade erst immer noch tiefer zu entfalten begann, musste dann eine schmerzhafte Vollbremsung hinnehmen. Siegfried Dunde erfuhr im Juli 1992, dass er sich mit HIV infiziert hatte, offenbar schon erkrankt im Vollbild AIDS. Jetzt in anderer Rolle, als HIV-Positiver, nahm er noch an einem Bundespositiventreffen ím Waldschlösschen teil.

Nur zehn Monate nach seiner HIV-Diagnose starb Siegfried Dunde am 20. Mai 1993 in Bonn an den Folgen von AIDS. Er wurde 40 Jahre alt.

Hier in der Pipinstraße 7, wo heute die Aidshilfe Köln ihre Räume hat und damals die AIDS-Stiftung „positiv leben“ ihren Sitz hatte, ist Siegfried Dunde durch diese Türen ein und aus gegangen. Und nebenan, wo sich die legendäre Szenekneipe „Stiefelknecht“ befand, hat er sein schwules Leben gelebt und seine Wahlfamilie getroffen.

In seinem Buch „Positiv weiterleben – Seelische Selbsthilfe bei HIV-Infektionen“ schrieb Siegfried Dunde: „Jahrelang trug ich einen kleinen Zettel in meiner Geldbörse. Auf ihm stand: ‚Ich werde nicht mein Leben leben, ohne Spuren zu hinterlassen.‘  Für mich war er ein Merkzeichen und Ansporn, mich zu entfalten, daß ich mit meinem Dasein, meiner Fähigkeit zu lieben, zu arbeiten und Sinn zu entdecken, Einfluß in meinem Lebenskreis ausübe.“

Lasst uns die Erinnerung an das Leben und Wirken von Siegfried Dunde lebendig erhalten. Liest man seine Bücher und Texte, – wozu ich sehr einladen möchte – entfalten seine Worte und Gedanken auch heute noch eine überraschende Aktualität. Es lohnt, Dunde zu lesen und sich mit ihm zu beschäftigen.

Siegfried Dunde inspiriert und ermutigt. Siegfried Dunde ist eine wichtige Figur in der Familiengeschichte unserer Wahlfamilie. Und er ist ein starkes Rollenmodell für nachfolgende Generationen.

Köln, 28.06.2023

Michael Jähme

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Ich danke folgenden Personen für ihre Bereitschaft, mir bei meiner Spurensuche von ihren Erfahrungen und Eindrücken von Siegfried Dunde zu erzählen:

Reinhard Klenke, Michael Zgonjanin, Wolfgang Vorhagen, Sabine Mehlem, Frank Niggemeier.

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Der Namensstein für Siegfried Dunde wurde gemeinsam finanziert von:

Michael Jähme zusammen mit Oliver Schubert, Michael Nusch-Bösebeck, Reinhard Klenke, Georg Roth, Dirk Meyer, Jacob Hösl, Matthias Kuske, Tim Vogler, Michael Zgonjanin und der Deutsche Aidshilfe.