(23. Juni 2022) Aufgrund von Baumaßnahme am Rheinufer fand die Gedenkveranstaltung Namen und Steine in diesem Jahr ausnahmsweise im Café Bach statt im Kalten Eck statt. Es wurde in den letzten 12 Monaten auch kein neuer Steine eingelassen, so auch keine Freunde und Angehörige von Verstorbenen im Rahmen von Namen und Steine sprachen. Wir haben uns aber sehr gefreut, dass Michael Jähme eine Rede gehalten hat. Er ist Aktivist und mit vielen Menschen aus den letzten knapp 4 Jahrzehnten Aidshilfe Arbeit verbunden.  Michael ist gewissermaßen ein personifizierter Schatz an Erinnerung und an Geschichten über das Leben – aber auch das Sterben mit HIV. Vielen Dank, lieber Michael, dass du dich bereit erklärst hast, bei uns zu sprechen. Hier seine Rede in kompletter Form.

Sehr geehrte Anwesende!

Liebe Freunde und Freundinnen!

Manchmal passiert es, da wird ein gut reflektierter und gründlich bearbeiteter Teil der eigenen Lebensgeschichte, den man eigentlich als abgeschlossen betrachtet, durch ein aktuelles Ereignis berührt und man wird von heftigen Emotionen überrascht.

So erging es mir, als ich am 17. Oktober 2020 die Nachricht vernahm, der damalige Kanzleramtsminister Helge Braun würde beabsichtigen, für die Opfer, also die Toten der Corona-Pandemie, eine besondere Ehrung, einen Staatsakt auszurichten. In einem Zeitungsinterview begründete er das mit: „Wir sollten ein Zeichen setzen, dass die Verstorbenen nicht vergessen sind.“

Meine Reaktion erfolgte prompt: Ein Nerv in mir war getroffen. Ich verspürte heftige Empörung. Ich schrieb spontan an Freunde: „In mir weckt das Wut und Zorn: Was ist mit den Aids-Opfern, vergessen und früher verachtet?? Warum gibt es und gab es da nie einen Vorschlag zu einem Staatsakt?“

Ich möchte heute nicht in eine Diskussion einsteigen darüber, welche Pandemie schrecklicher war, und welche Berechtigung ein Staatsakt für die Corona-Toten hat oder nicht.

Ich möchte mich stattdessen darauf konzentrieren und Sie einladen, mit mir nachzudenken, was es denn genau war, dass meine spontane Empörung ausgelöst hat, welcher Nerv es ist, der da in mir getroffen ist.

Für Menschen, die an Aids gestorben sind, hat es meines Wissens nie einen nationalen Gedenkakt gegeben. Aids hat anders als Corona nicht die gesamte Bevölkerung betroffen. Das Drama des Sterbens an Aids fand abseits der öffentlichen Wahrnehmung statt. In Familien wurde Aids als Todesursache verschämt verschwiegen, über das wahre Leben der Verstorbenen wurde selten frei und direkt gesprochen. Eine HIV-Infektion und Aids-Erkrankung galt für die bürgerliche Gesellschaft als Beweis für ein „falsch gelebtes Leben“. Da brauchte man kein Mitgefühl entwickeln und grenzte sich lieber ab und die Betroffenen aus. Aids wurde versteckt und beschwiegen. Menschen mit HIV und Aids wurden, wie Aussätzige behandelt, ihnen wurde Menschenwürde verweigert, in den ersten Jahren der Aids-Krise oft genug und gerade auch bei der medizinischen Versorgung.

Diese verletzte Würde, besonders der frühen Jahre der HIV-Pandemie, ist es, die als erlebte Erfahrung des gesellschaftlichen Klimas immer noch in mir vorhanden ist und sich beim Hören der Ankündigung eines Staatsaktes für die Corona-Toten als heftiger Schmerz wieder meldete. Auch wenn ich nun seit 1990 mit der HIV-Diagnose lebe, auch wenn ich HIV überlebt habe und auch wenn uns gemeinsam mit der Arbeit in den Aidshilfen viel gelungen ist an Abbau von Stigmatisierung und Diskriminierung, so scheint es da trotz alledem immer noch etwas zu geben, das latent als Unruhe in mir schlummert. Eine wirkliche Heilung von diesen frühen Verletzungen meiner Würde ist ganz offensichtlich noch nicht erfolgt. Es steht noch etwas aus. Es gibt noch eine Forderung von mir an die Gesellschaft. Es ist eine Forderung nach Wiedergutmachung.

Mich hat erstaunt, dass in der aktuellen Coronavirus-Pandemie so wenig auf die Erfahrungen im Umgang mit der vorherigen Pandemie, mit HIV, geschaut wurde. Weder Politik noch Medien schenkten dem alten Erfahrungswissen Beachtung. In den 1980er Jahren hat Rolf Rosenbrock das Buch geschrieben: „AIDS kann schneller besiegt werden.“ Seitdem gibt es einen Maßnahmenkatalog voller wirksamer Instrumente. Wer die Aids-Krise erlebt hat, kannte jetzt bei Corona alle Begriffe und Dynamiken vom Leben mit sich ständig verändernden Wissensständen.

Aber die Gesellschaft als Gesamtes hatte Aids vergessen, und konnte deshalb ganz offensichtlich nicht auf Bewährtes zurückgreifen. Stattdessen beobachtete ich, wie die Gesellschaft nun mühsam lernte, was wir schon bei HIV schon haben lernen müssen und längst wissen: Es gibt keinen 100%igen Schutz. Es gibt wirksame Maßnahmen und Verhaltensweisen, die das Ansteckungsrisiko reduzieren. Es braucht Aufklärung über die Übertragungswege. Menschen müssen befähigt werden, eigene realistische Risikoeinschätzungen zu treffen und eigenes Risikomanagement zu lernen, auf der Grundlage des heutigen Wissensstandes.

So wie die Gesellschaft die HIV-Pandemie und das anfangs qualvolle und einsame Sterben an AIDS vergessen hat – und sich auch nicht daran erinnern will -, so fühle auch ich mich mit meinen Erfahrungen vergessen.

Ein Staatsakt wie bei Corona im April 2021 lenkt die Aufmerksamkeit der gesamten Gesellschaft auf Opfer und Hinterbliebene und drückt kollektive Anteilnahme aus. Diese gemeinsame Anteilnahme hat es bei Aids nie gegeben. Man wollte uns nicht sehen. Wir waren in unseren Communities alleine, – wenn wir sie denn hatten. Die kollektive Anteilnahme ist uns vorenthalten worden.

Wir werden alt und haben HIV überlebt, als HIV-Positive wie als HIV-Negative. Sichtbar ist, dass wir da sind. Was wir erlebt haben, sieht man uns nicht an. Unsere Schmerzen müssen wir immer noch erklären, um verstanden zu werden, wenn durch äußere Ereignisse ein Nerv getroffen ist und wir emotional reagieren.

Ich vermute, ich bin nicht der Einzige, der diese Erfahrung macht. Das Gedenken der Aidshilfe Köln heute hier am „Kalten Eck“ spendet die Erfahrung, mit der erlebten Geschichte nicht alleine zu sein. Es tut gut, hier zu sein.

Vielen Dank!

Michael Jähme, 23. Juni 2022